Rütlischwur
Der Schwur auf dem Rütli
Der Mond stand hoch in den funkelnden Sternen, und das zarte
Schleierband der Milchstrasse überspannte den nächtlichen Himmel über
dem Vierwaldstättersee. Kaum spürte man das leise Lüftchen, das vom
Gotthard her über den Urnersee strich und mit dem tanzenden
Widerschein des Mondes spielte. Mächtig reckten die Urner- und
Schwyzerberge ihre zackigen Häupter zum Himmel empor. Ringsum war
alles still wie im schweigenden Raume eines Domes. Mensch und Tier
schliefen. Nur auf der waldumsäumten Rütliwiese brannte ein kleines
Feuer. Dort wachten ein paar Männer im flackernden Lichtschein. Sie
redeten wenig. Um so aufmerksamer horchten sie gegen den See hinunter.
Manchmal erhob sich Walter Fürst und schritt, tief in Gedanken
versunken, zum Rande der Wiese, von wo aus er gegen Brunnen
hinüberblickte. Wie Firnschnee strahlte sein weisses Haupthaar im
Mondschein.
Vom See herauf klatschten Ruderschläge. Die Schwyzerfreunde nahten
heran. Sie landeten mit ihren beiden Nauen und stiegen den steilen
Hangweg empor zum geheimen Platz auf der Rütliwiese. Ab Yberg stützten
sie den alten Konrad Hunn, weil diesen die schwanken Beine kaum mehr
zu tragen vermochten. Walter Fürst schritt den Männern entgegen und
begrüsste zuerst mit innigem Händedruck seinen geliebten Freund Werner
Stauffacher. Hierauf begaben sie sich zum Feuer, wo die Urner ihre
Schwyzerfreunde mit unterdrücktem Jubel empfingen.
Bald tauchten aus dem Walde andere Männer auf. Die Kapuzen der
Hirtenhemden hatten sie über den Kopf gezogen, und in den Händen
hielten sie knorrige Stöcke. Die Unterwaldner waren es. Am frühen
Abend schon hatten sie daheim ihre Höfe verlassen und waren, geführt
vom jungen Arnold, zum versteckten Platz gekommen. Müde und doch
zufrieden setzten sie sich beim Feuer nieder. Nachdem alle einander
begrüsst und kennengelernt hatten, stieg Werner Stauffacher auf einen
Stein, von dem aus er die Männerschar aus den drei Tälern gut
überblicken konnte.
"Brüder", begann er in feierlichem Tone zu sprechen, während die
Männer sich erhoben, "im Namen Gottes stehen wir hier und reichen
einander die Hände. Ein Wille, ein Ziel einigt uns: Frei wollen wir
sein ! In tiefster Not versprechen wir, einander zu helfen, im Kampfe
gegen die Vögte zusammenzustehen und uns vor keiner Gewalt zu beugen.
Ist einer unter euch, der nicht bereit ist, sein Leben, sein Gut und
sein Blut zu opfern, so verlasse er den Kreis !"
Keiner regte sich, alle schwiegen. Da sprach Stauffacher mit
feierlichem Ernste das Gelöbnis:"So erhebet, meine Freunde von Uri,
Schwyz und Unterwalden, eure Hand zum Schwure ! Der dreieinige Gott
sei Zeuge, dass wir beschlossen haben, unsere Freiheit gegen jede
fremde Macht und Gewalt zu schützen für uns und unsere Kinder !"
Wie ein heiliger Chor erklang der Schwur in der stillen Nacht :" Wir
geloben es." Die Hände senkten sich, und in das versunkene Schweigen
sprach Walter Fürst andächtig wie ein Gebet die Worte: " Gott sei mit
euch und eurem Bunde, meine Eidgenossen !"
Staufacher fuhr fort: " Eidgenossen, wir sind entschlossen, unsere
Peiniger, die Vögte, zu vertreiben. Wer einen Ratschlag weiss, der
spreche sich aus !" In den Reihen entstand wirres Gemurmel, das erst
wieder verstummte, als Arnold von Melchtal aus der Reihe trat und
seinen Vorschlag kundtat.
"Wir müssen die Herren mit List ergreifen. Am Zinstag oder in der
Neujahrsnacht, wenn wir unsere Geschenke in die Burgen tragen, kommen
wir unbehelligt hinter die Mauern. Wir halten die Waffen unter den
Hemden versteckt, und auf ein verabredetes Zeichen geht's los. Ein
paar Dutzend Getreue genügen, um dem Vogt samt seinem Gesinde den
Graus zu machen."
" Gut gesprochen !" rief Rudolf Stauffacher, der ehemalige Schwyzer
Landammann, dem jungen Unterwaldner zu. Lauter Beifall begleitete
seine Worte. Arnold glühte vor Eifer und Begeisterung. Der vornehme
Unterwaldner Landammann von Oedisriet aber gab zu bedenken : " Männer,
ihr vergesst, wie stark der Feind ist. Wenn wir die Vögte vertreiben,
machen wir uns den Kaiser und seine verwandten Herzöge und Fürsten zu
Feinden. Ich frage euch : " Seid ihr bereit, mit schlechten Waffen
gegen ein mächtiges Reiterheer zu kämpfen ?"
"Wir sind bereit ! Der Kaiser ist Tot ! Wir werden die Reiter von den
Rossen herunterholen !" Die lauten Rufe tönten wirr durcheinander.
Nochmals versuchte der Landammann, die kampfesfreudigen Männer zur
Besinnung zu bringen. "Wir sollten noch zuwarten mit dem Burgensturm,
bis der neue Kaiser gewählt ist. Vielleicht wird es kein Habsburger
mehr sein, und wir könnten ohne Waffen und Blut unsere Vögte
loswerden." Wiederum wurde der Sprecher durch Zwischenrufe
unterbrochen: " Albrecht, des Kaisers Sohn, ist nicht besser als sein
verstorbener Vater. Er wird uns neue Vögte ins Land schicken. An
Weihnachten schlagen wir zu !"
Auch der Urner Freiherr von Attinghausen wollte die Männer
beschwichtigen: " Mit Waffe und Kampf richten wir gegen einen
überlegenen Feind nichts aus. Wenn wir besiegt werden, gibt's
schlimmere Zeiten, als wir sie jetzt erleben. Wir sollten dem neuen
Kaiser unsere rechtmässigen Klagen vortragen und ihn um eine mildere
Herrschaft bitten."
Aber auch dieser Vorschlag kam bei den Männern nicht gut an. " Wir
haben lange genug gewartet, und es hat alles nichts genützt." "Gewalt
muss mit Gewalt bezwungen werden !" rief Werner Stauffacher von Schwyz
dem Urner Freiherrn entgegen.
Im Osten begann es schon zu dämmern. Es war Zeit zum Aufbruch. Werner
Stauffacher stellte die letzte Frage: " Wollt ihr den Kampf gegen die
Vögte und ihren Anhang wagen ?"
Wie aus einem Munde kam die Antwort: " Wir wollen es wagen, so Gott
uns helfen wird !" Entschlossen begaben sich die Bauern auf den
Heimweg.